Laulu

Prolog im Tonstudio

Am 19. Mai 1919 singt der in die USA emigrierte finnische Tenor Juho Koskelo eine finnische Variation der Arbeiter-Marseillaise im Studio der Victor Talking Machine Company in Camden / New Jersey. Die Aufnahme wird später bei Victor erscheinen. Die Marseillaise ist zwar seit 1879 Nationalhymne in Frankreich und als Kampflied der weltweiten Arbeiterbewegung inzwischen von der Internationalen abgelöst, besitzt aber durch ihre Verbindung mit der französischen Revolution im Jahr 1919 noch immer die Bedeutung Ausdruck einer emanzipatorischen revolutionären Bewegung zu sein. Die Internationale, die Koskelo am selben Tag einsingt, schafft es bei der Veröffentlichung nur auf die B-Seite.

Lippen und Socken

Neunzig Jahre später denke ich an Lippensynchronität, einen Opernbesuch, einen bestimmten sehr dehnbaren Stoff und eine halb aufgerollte Socke. Wenn man Haken an mehreren Stellen der Sockenrolle Haken anbringt und diese an einem Metallring beweglich befestigt, kann man durch Veränderung des Abstands der Haken zu Mitte die Form des Sockenrings verändern. Breit, schmal, klein oder groß – die entstehenden Bewegungen ahmen  die Stellung eines Mundes nach. Eine Sing-Vorrichtung.

In den folgenden Monate bastle ich an diesem Gerät. Viele der Materialien liegen schon lange in der Werkzeugkiste und haben schon einige Umzüge mitgemacht. Die begrenzten Mittel erlauben es nicht, eine chromglänzende Apparatur mit angenehm schimmernder Oberfläche zu bauen, aber das möchte ich auch gar nicht. Geleckter Perfektionismus ist hier fehl am Platz. Ich entschließe mich dazu, auf Nachbearbeitung der Bilder zu verzichten. Im Film werden dadurch eigenartige Bewegungsartefakte auf der Molton-Oberfläche zu sehen sein, wo ich beim Animieren der Objekte meine Hand aufgestützt habe.

Maschinen brauchen einen Antrieb. Und maschinell erzeugte Musik braucht ein Abspielgerät das die Töne aus einem wie auch immer gearteten Trägermedium herausliest und hörbar macht. Mir spukt dazu die Edison-Walze im Kopf herum, auch so eine aufgegebene Erfindung. Der Entwurf des Abspielgerätes ist mir nach den ersten Probeaufnahmen zu unelegant. Die lineare Bewegung ist öde, die Form kastig und der Ursprung der Drehung auf unästhetische Weise unklar:

Mit der zweiten Version versuche ich mich den Jugendstilformen des 19. Jahrhunderst zu nähern. Beim Orchester orientiere ich mich in Vorwegnahme der nachfolgenden Epoche an den Grundformen des Bauhaus, Kreis, 3- und 4eck, doch nicht ohne auch dieses mit den überkommen Schnörkeln einer alten Ordnung zu belasten.

Revolutionen und Gespenster

Gleichzeitig machte ich mich auf die Suche nach einer passenden Tonaufnahme. Die Vokale sollten deutlich ausgeformt und der Gesang nicht zu schnell sein. Das Gerät erinnert mit seiner Aufhängung an ein altes Radio-Mikrophon und wirkt wie der hilflose Versuch aus vergangener Zeit eine bahnbrechende Technologie zur Gesangs-Wiedergabe zu entwickeln. Ein modernes Lied ist daher ausgeschlossen. Nach längerer Suche in öffentlichen Tonarchiven finde ich in der finnischen Nationalbibliothek Koskelos Arbeiter-Marseillaise. Zuerst tappe ich noch in die Nationalhymnen-Falle und freue mich über dieses durch die mir vollkommen fremde finnische Sprache und das Alter der Aufnahme umgekrempelte Nationalpathos. Nach den ersten Rechercheergebnissen kommen mir Zweifel, ob ich mich der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts gegenüber wirklich so abfällig äußern möchte. Die deutsche Übersetzung des Textes zerstreut diese Zweifel. Da ist von Verteidigung des Rechts (wessen?) die Rede, eine Fahne weht und furchtlose Truppen marschieren im heiligen und edlen Kampf gegen den mächtigen Feind bis in den Tod, um fürderhin zu siegen. Die revolutionäre Befreiung aus der Kapitalistischen Knechtschaft – vor allem der des Geistes – stelle ich mir anders vor.

2941 Fotos später (1396 davon sind im Film zu sehen) spielen sich meine Akteure durch eine gespenstische Choreografie und schleusen den dünnen Schatten ihrer längst verblassten Botschaft in das Jahr 2011 ein.

Epilog in der Anwaltskanzlei

Die Aufnahme im Finnischen Nationalarchiv ist mittlerweile gelöscht – natürlich aufgrund eines ›Copyright issue‹. Die Victor Talking Machine Company ist nach einer langen Odyssee der Umfirmierungen, Fusionen, Verkäufe und Konkurse in den Besitz von Sony Music Entertainment übergegangen. In der Library of Congress finde ich die Marseljeesi wieder, jetzt mit dem Vermerk ›courtesy of Sony Music Entertainment‹.

Ein dazu konsultierter Anwalt kann mich teilweise beruhigen. Die Leistungsschutzrechte an einer Tonaufnahme erlöschen nach Europäischem Recht  nach 50, spätestens 70 Jahren nach der Veröffentlichung. Die Aufnahme ist dann vergesellschaftet. In Europa und überall sonst auf der Welt kann eine 92 Jahre alte Tonaufnahme also in einem Film verwendet werden, sofern niemand mehr Rechte an Text und Komposition geltend macht. Eine Ausnahme bilden die USA, wo die Schutzfrist bei Tonaufnahmen derzeit 95 Jahre beträgt, und zudem ein ziemlicher Salat aus älteren Regelungen gilt. Aufgrund internationaler Verträge gilt im Inland stets inländisches Recht. Ich kann den Film in Deutschland zeigen, ohne juristisch dafür belangt zu werden. Im Internet kann ich ihn nicht zeigen. Denn das liegt ja bekanntlich in den USA.